Farge-Rekum und das Gericht Neuenkirchen

An das ehemalige bremische Amt Blumenthal schloß sich im Norden das erzbischöfliche Gericht Neuenkirchen an. Es reichte von Farge bis ins südliche Osterstade, über Rade bis zu dem aus drei Gehöften bestehenden Hassel, einem alten Grenzorte. Mittelpunkt, Pfarr- und Gerichtsstätte war das vom Geestrande in die Marsch schauende Neuenkirchen. Diese neue Kirche wurde anstelle einer älteren erbaut, die zu Nedderwarden auf einer flachen, von der Weser weggeräumten Wurt in der Marsch lag. Sie war 1192 fertig und wurde St. Michael geweiht.

Als 1519 die Gerichtsherren von Stelle ausgestorben waren, gelang es dem Bremer Rat, mit diesem Gebiete das Amt Blumenthal abzurunden, wofür der Erzbischof einen Vorschuß von 1500 Gulden erhielt. 1582 wurde auch in Neuenkirchen wie in Blumenthal und in der Herrschaft Bederkesa das in Bremen gültige reformierte Bekenntnis eingeführt. 1741 hat Bremen das Gebiet im Stader Vergleich wieder an den König von Großbritannien abgetreten, bis 1804 aber von dem damals eingeräumten Recht, Prediger und Lehrer vorschlagen zu dürfen, noch Gebrauch gemacht. Farge und Rekum gehören jetzt zur Stadt Bremen, und bis Neuenkirchen fahren halbstündlich die Vorortbusse von Bremen-Burg. Neuenkirchen und Rade sind beim Kreise Osterholz verblieben.

Farge und Rekum liegen auf dem westlichen Hange der Vegesacker Geest, der Schwaneweder Heide mit ihrem Sand und ihren Fuhren, die hier fruchtbaren Weserwiesen Raum gibt und sich langsam gegen sie abdacht. Kuppige Dünenhöhen sind auf ihr aufgeweht.

Auf die Nähe des Flusses und eine alte Fähre deutet der Ortsname Farge, der an Fähr wie Verden erinnert und wo man auch heute noch nach dem gegenüber liegenden Berne übersetzen kann. Hier errichtete Erzbischof Giselbert kurz nach 1200 auf einem Hügel am Strom das Zollschloß Witteborg, das keine Spuren hinterlassen hat, dessen Name aber die hier gegründete Steingutfabrik aufgriff.

Rekum oder Reken geht wahrscheinlich auf ein hem oder heim, auf einen Einzelhof zurück, und hier hat es auch ein Adelsgeschlecht von Reken gegeben.

Nach 1700 wuchs auch hier die Bevölkerung in größerem Ausmaße. Die kleinen Leute wandten sich dem Schiffbau und der Schiffahrt zu, und es entwickelte sich die Kahnschifferei für bremische Rechnung. Vor einem Jahrhundert waren hier über 50 solcher Fahrzeuge beheimatet. Auf den Werften von Seebeck und Arfmann unter dem Rekumer Berge wurden nach jahrelanger Erfahrung diese einmastigen und zweimastigen Fahrzeuge erbaut. Auch die Aschwardener Kohlbauern bestellten hier ihre Schiffe. Ohne Zeichnung wurden sie aus den Hirnen der Base oder Meister »nach der Schnauze« gestaltet. Die Rekumer Schiffer fuhren mit ihnen sogar nach Holland und brachten von dort schöne Delfter Wandplatten als Wandschmuck für ihre Häuser mit heim.

Ein Schifferverein blühte, und wenn ein alter Fahrensmann starb, trugen ihn die jüngeren Kahnschiffer in blauer Seemannstracht und Mütze zu Grabe. Der Leichterbetrieb der bremischen Großreedereien hat aber diese Kahnschifferei zum Erliegen gebracht. Immerhin erinnern in Rekum noch viele typische Schifferhäuser, in Fachwerk gebaut und weich gedeckt, an diese Zeiten.

1852 hielt aber auch schon die Industrie ihren Einzug in Farge. Sie war eine englische Gründung. Die enge politische Verbindung zwischen Großbritannien und Hannover hatte es mit sich gebracht, daß viel englisches Steingut eingefühlt wurde. Daher wurde hier in Farge mit englischem Kapital, englischen Arbeitern und unter einem englischen Direktor die Steingutfabrik Witteburg in Betrieb genommen. Diese Stammbelegschaft wohnte an der »englischen Reihe«, und großbritannische Seeschiffe brachten aus dem Mutterlande den weißen Ton herüber.

Die neue Fabrik stellte schönes, farbiges Geschirr her. Es gab in ihr einen besonderen Farbmühlensaal, in dem Tag und Nacht die Farbmühlen liefen. Geschickte Steingutmaler waren tätig, und ein Künstler stach Blumenstücke und Ansichten in Kupfer, die mittels Papierabzügen auf den gebrannten Scherben mit der Glasur übertragen wurden. Es gelang aber bei dem alten, kegelförmigen Ofen nicht immer, den Brand der Scherben und der Glasur richtig aufeinander abzustimmen. Daher zeigten sich nach dem zweiten Brande in den Stücken oft feine Haarrisse und Sprünge, die zu großen Ausfällen und Verlusten führten. 1918 ist die Witteburg der Grohner Steingutfabrik angeschlossen worden, und nach wie vor stellte sie besonders Steingutgeschirr her. Jetzt hat man aber wegen der starken Nachfrage auch hier die Erzeugung ganz auf Wand- und Bodenplatten umgestellt.

Dann erstand in Farge ein Werk der Holzindustrie, in dem besonders Kisten zum Verpacken von Räucherfischen hergestellt wurden. 1907 übernahmen die Gebäude ein Bremer und ein Harburger Kaufmann und richteten eine Stuhlrohrfabrik ein. 1912 wurde daraus die Hanseatische Stuhlrohrfabrik AG. Hier wurde wie in zwei anderen Bremer Betrieben das über Singapur aus Indonesien kommende Rohr aufgespalten und zum Flechten von Sitzen aufbereitet. Hauptabnehmer war die Möbelindustrie. 50°/o gingen ins Ausland, besonders in Länder mit warmem Klima, wo Polstersitze weniger beliebt sind. 1940 mußte der Betrieb wegen Mangel an Rohmaterial auf Kriegsindustrie umgestellt werden.

Eine Hinterlassenschaft dieses Krieges und ein Merkmal der Weserlandschaft ist der über 400 m lange, 100 m breite und 25 m hohe gewaltige Betonbunker, der für die Montage von U-Booten erbaut wurde und jetzt als toter Betonklotz daliegt.